close
close

Hans-Werner Sinn im Interview zu Deutschland, AfD, Elektroautos, Euro, Trump

Der Ökonom Hans-Werner Sinn geht scharf mit der Energiewende und dem Dirigismus der Ampelregierung ins Gericht. Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer möglichen Regierungsbeteiligung der AfD in Thüringen und Sachsen erachtet er hingegen als gering.

Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München.

Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München.

Ipon / Imago

Herr Sinn, fast täglich gibt es in Deutschland von linken Ökonomen scharfe Kritik an der Schuldenbremse. Trägt sie tatsächlich zur Lähmung des Landes bei?

Staatsschulden sind eine Art Rauschgift für die Wirtschaft. Der Entzug schmerzt. Sie sind nicht gut für das Wirtschaftswachstum, weil sie private Investitionen verdrängen. Der Staat hat durch die Schulden zwar mehr Geld, doch Minister und Beamte wissen im Gegensatz zu privaten Investoren, die ihr eigenes Geld riskieren, nicht, was gute Investitionen sind.

Im Vergleich mit vielen anderen Industriestaaten ist Deutschland mit gut 60 Prozent gemessen am Bruttoinlandprodukt niedrig verschuldet. Ökonomen vermuten negative Auswirkungen für das Wachstum ab einer Schuldenquote von 90 Prozent.

Deutschland stabilisiert mit seiner Bonität und Schuldendisziplin die Währungsunion. Wenn es so hohe Schuldenquoten akzeptieren würde wie andere Länder, würden die Zinskosten und damit die Risikoprämien aller Länder ansteigen. Die EZB sähe sich dann wieder gezwungen, Staatsanleihen zu kaufen, damit Länder wie Italien nicht in Not geraten. Eine Rückkehr zur hemmungslosen Schuldenpolitik der letzten Jahre würde eine neue Teuerungswelle erzeugen.

Es gibt Vorschläge für eine Reform der Schuldenbremse. Kann man aus einer guten nicht eine noch bessere Schuldenbremse machen?

Die Vorschläge laufen alle auf eine Lockerung hinaus. Europa befindet sich aber immer noch in der Stagflation, also einer Situation mit schwachem Wachstum und Inflation. In dieser Situation sind Zusatzausgaben nicht gefragt; wir haben ja keine Unterbeschäftigung, in der die Konjunktur durch Nachfrageimpulse belebt werden könnte.

Sie kritisieren oft den zunehmenden Dirigismus in Deutschland, haben Sie ein Beispiel?

Jüngst lobte sich der scheidende Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, dass in seiner Legislaturperiode über hundert neue Gesetze und Verordnungen erlassen worden seien. Das zeigt die verkorkste Denkweise in diesem Land.

Die Grünen nennen das den zulässigen Einsatz von Ordnungspolitik.

Das ist eine schlimme Verdrehung. Tatsächlich geht es bei der Ordnungspolitik um die Schaffung eines stabilen Rechtsrahmens für frei ausgehandelte private Verträge, die unter Konkurrenzbedingungen zustande kommen. Die neue Ordnungspolitik der Grünen ist nichts als alter Dirigismus. Auch die EU fährt hier mit ihren Taxonomie-Verordnungen in die falsche Richtung. Nicht kundige Investoren, die um ihr Geld bangen, sondern realitätsferne Politiker entscheiden, in welche Branchen Geld fliessen soll und in welche nicht.

Deutschland und auch grosse Teile der EU hatten lange Zeit auf eine liberale Wirtschaftspolitik gesetzt. Mittlerweile setzt man aber mehr auf Staatsinterventionen. Woran liegt das?

Erstens haben wir durch den Brexit einen Freihändler verloren. Grossbritannien war neben Deutschland ein Garant einer liberalen Handelspolitik. Jetzt gewinnen in der EU Merkantilismus und Dirigismus à la française die Oberhand. Der Dirigismus, den die EU mit ihrem Verbrennerverbot exerziert, passt nicht zur Marktwirtschaft. Und der Umweltnutzen ist nicht vorhanden.

Halten Sie den Umstieg auf das Elektroauto für falsch?

Ja, wenn er erzwungen wird. Elektroautos sind nicht CO2-frei, wie die EU behauptet. Mit der Batterie trägt jedes Auto einen schweren CO2-Rucksack, und der Auspuff ist zwar nicht am Auto festgemacht, steht aber meistens ein paar Kilometer weiter im Kohlekraftwerk. Das Verbrennerverbot hat Deutschland zusammen mit anderen energiepolitischen Sünden in die Deindustrialisierung getrieben.

Die Grünen argumentieren beim Kampf gegen den Klimawandel mit Marktversagen.

Ja, natürlich liegt hier ein Marktversagen vor. Der CO2-Ausstoss der Länder ist die grösste Externalität der Menschheit. Insofern wäre es richtig, wenn sich alle Länder zusammentäten, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Davon kann aber nicht die Rede sein. Nur die Europäer und ein paar andere grün gesinnte Länder machen mit. Und weil das so ist, fliesst das Erdöl, das die grünen Länder nicht mehr verbrauchen, über die Märkte zu fallenden Preisen in andere Länder und wird dort verbrannt. In der Erde bleibt es jedenfalls nicht. Das habe ich in der NZZ schon vor zweieinhalb Jahren anhand einer Grafik gezeigt. Der Effekt der Verbote ist nicht nur klein, weil Europa klein ist, sondern er ist null, weil Europa vergeblich versucht, die Scheichs durch seine Nachfragepolitik zu besiegen. Eine solche Politik ist wirkungslos, weil Öl ein handelbarer Brennstoff ist und Extraktionskosten kaum eine Rolle spielen.

Was schlagen Sie vor?

Es gibt im Wesentlichen nur zwei Effekte auf den CO2-Gehalt der Atmosphäre, die Europa gesichert erzielen kann: Erstens kann es das bei der Verbrennung entstehende CO2 unter dem Meeresboden verpressen. Und zweitens kann es die eigenen Brennstoffe im Boden lassen, also vor allem die Braunkohle.

Das Argument der europäischen Vorbildfunktion, nach der sich dann andere Länder richten, sehen Sie nicht?

Nein, das Gegenteil ist der Fall. Deutschland richtet seine eigene Industrie zugrunde. Das werden andere Länder begrüssen, aber nicht kopieren. Denn deren eigene Industrie wird über das zufliessende Öl sogar gefördert.

Die deutsche Energiewende gilt als völlig verkorkst. Kann man jetzt noch etwas tun, um die Entwicklung zu korrigieren?

Das Verbrennerverbot ist sofort zu kippen und möglichst durch ein internationales Emissionshandelssystem zu ersetzen, an dem alle grossen Verbraucherländer der Welt beteiligt sind. Der eigene Kohleabbau sollte stattdessen unilateral zurückgefahren werden. Technisch müssen wir zurück zur Kernkraft, damit wir wieder niedrigere Strompreise bekommen. Man könnte einige der stillgelegten Reaktoren mit überschaubaren Kosten wieder in Betrieb nehmen. Zu erwägen sind auch die neuen Flüssigsalzreaktoren. Diese Anlagen sind inhärent sicher und klein. Sie werden zurzeit von einem halben Dutzend Startup-Unternehmen weltweit vorbereitet. Man sollte auch die einseitige Ausrichtung auf Wind- und Sonnenstrom hinterfragen, denn dieser Strom ist flatterhaft und nicht regulierbar. Zur Abdeckung der vielen Dunkelflauten und Bedienung einer ebenfalls unsteten Stromnachfrage braucht man genauso viele konventionelle Kraftwerke wie bisher. Es entstehen also doppelte Fixkosten. Die machen den Strom sehr teuer.

Wenn man zurückwollte zur Atomkraft, stellt sich die Frage, wie dies geschehen soll. Schliesslich will niemand ein Kraftwerk vor der Haustür haben.

Das stimmt so nicht. Die Einwohner von Biblis haben gegen die Schliessung des dortigen Atomkraftwerks protestiert. Da ging es auch um Arbeitsplätze. Weltweit werden zurzeit Hunderte konventionelle Atomkraftwerke neu geplant. Die Atomkraft ist wieder im Kommen. Nur Deutschland ist nicht dabei, und die Schweiz weiss nicht, was sie tun soll.

Halten Sie die Ziele für erreichbar, die sich Deutschland beim CO2-Ausstoss gesetzt hat?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben gegenüber dem Bezugsjahr 1990 beim CO2-Ausstoss einen Rückgang um 40 Prozent erreicht. Das lag im Wesentlichen am Untergang der DDR-Industrie. Jetzt wollen wir die übrigen 60 Prozent in 20 Jahren schaffen. Das geht nur durch eine Deindustrialisierung des Landes, doch dagegen protestiert die Bevölkerung zu Recht. Kein Wunder, dass links und rechts neue Parteien entstanden sind, die diesen Kurs nicht mittragen wollen.

Sie spielen auf die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) an?

Ja. Die Wahlergebnisse in Ostdeutschland werden die alten Parteien hoffentlich zur Besinnung bringen. Die alten Parteien haben sich mit den neuen leider nicht argumentativ auseinandergesetzt, sondern selbstgefällig Brandmauern gesetzt und Schmähungen ausgesprochen. Das brachte viele Menschen in den neuen Ländern ziemlich in Rage.

Was würde eine Regierungsbeteiligung der AfD nun für die Unternehmen und die Wirtschaft in den beiden Bundesländern bedeuten?

Das ist schwer zu sagen. Sollte die AfD tatsächlich beteiligt werden, weil Brandmauern eingerissen werden, reduziert sich die Gefahr der Unregierbarkeit der Länder. Das würden viele Unternehmen vermutlich als Erleichterung empfinden. Andere würden aber den Migrationsstopp und die damit einhergehende Lohnerhöhung befürchten. Im Ganzen erwarte ich eher geringe Auswirkungen, ähnlich wie es in Italien nach dem Sieg der Fratelli d’Italia war. Die Kartoffeln werden auch in Deutschland nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wurden.

Derzeit häufen sich die Meldungen über Entlassungen. Was wären neben dem Energiebereich die Sektoren mit grossem Handlungsbedarf, um den Standort zu stärken?

Der Bildungsstand der Schüler ist auf keinem guten Niveau. Das hat viel mit der Migration zu tun. Migrantenkinder haben erst einmal Schwierigkeiten, Deutsch zu sprechen. Bei uns gibt es keine École maternelle wie in Frankreich, wo die Kinder frühzeitig an die Sprache herangeführt werden. Ausserdem ist es nicht gelungen, bei jungen Migranten ein Interesse an Lehrstellen im dualen Ausbildungssystem zu wecken. Schliesslich hat die Leistungsfähigkeit der Schulen ganz allgemein abgenommen. Das Streben nach Work-Life-Balance hat das alte Arbeitsethos verdrängt.

Wo zeigt sich das aus Ihrer Sicht?

Fahren Sie nur mal mit der Deutschen Bahn – wenn Sie aus der Schweiz kommen, bekommen Sie da einen Riesenschreck. Das liegt nicht nur an der Infrastruktur. Auch die neu eingesetzten Züge an den Kopfbahnhöfen fahren schon verspätet los. Als Münchner kann ich ein Lied davon singen. Es ist auch ein Problem der Arbeitsdisziplin. Deutschland brauchte eine grosse Bildungsoffensive und eine Besinnung auf die traditionelle Arbeitsmoral. Auch im naturwissenschaftlichen Bereich und bei der Digitalisierung hinkt Deutschland hinterher.

Themenwechsel: Die Inflation ist in den USA und der Euro-Zone zurückgegangen, liegt aber immer noch oberhalb der Grenze von 2 Prozent. Wird die Teuerung in den nächsten Jahren erhöht bleiben?

Vermutlich, denn es gibt gewisse Gewöhnungseffekte. Ist die Inflation einmal höher, dann plant man mit diesen höheren Werten, und das Geplante wird zur Realität. Auch gibt es Nachholeffekte bei Mietkontrakten und Löhnen. Die Löhne kamen der Inflation zunächst nicht hinterher, doch binnen Jahresfrist waren die deutschen Reallöhne bis zum ersten Quartal dieses Jahres um 3,8 Prozent gestiegen. Das wird insbesondere die Firmen im Dienstleistungssektor veranlassen, die Preise zu erhöhen. Solch starke Reallohnsteigerungen hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Sie verschleppen die Inflation in die Zukunft.

Wenn die EZB die Leitzinsen nun senken würde, würde sie das Problem dann wieder vergrössern?

Ja, natürlich. Mit einer Zinssenkung schürt eine Zentralbank das Feuer der Inflation. Auf die Zinssenkungen reagieren nicht nur die Firmen, sondern vor allem auch die Staaten mit neuer Verschuldung. Die Verschuldung erzeugt neue Nachfrage, was wegen der Energieknappheit und der demografisch bedingten Verminderung des Potenzials an gut ausgebildeten Arbeitskräften die Preise treibt.

In Europa verschieben sich die politischen Gewichte, die Parteien links und rechts aussen haben immer mehr Zulauf. Tendenziell wollen die beiden extremen Seiten noch mehr Geld ausgeben. Gleichzeitig fordern diese Parteien, wieder stärker auf das eigene Land zu schauen, nicht auf andere. Hat das Sprengkraft für die Euro-Zone?

Was die neuen Parteien wirklich vorhaben, ist mir noch nicht klar. Fest steht aber, dass mit den internationalen Sozialisierungs- und Schuldenprogrammen der EZB strukturelle Probleme übertüncht wurden. Es wäre grundsätzlich besser, ein System mit harten Budgetbeschränkungen zu etablieren, in dem ein jedes Land für seine eigenen Schulden einsteht, anstatt sich auf die Hilfe anderer zu verlassen. Der Schweizer Föderalismus funktioniert auch nur, weil es dort keine Zuständigkeit von übergeordneten Gebietskörperschaften für die Schulden untergeordneter Gebietskörperschaften gibt. Gläubiger wissen deshalb, dass sie die Bonität ihrer Schuldner genau prüfen müssen. Das ist eine automatische Schuldenbremse im System.

Sehen Sie die Schweiz hier als Vorbild für die Euro-Zone?

Die Schweiz ist für mich ein gutes Modell für Europa, was die Schuldendisziplin angeht. Als Beispiel dient die Gemeinde Leukerbad im Wallis, deren Verbindlichkeiten, als sie zahlungsunfähig wurde, nach Meinung der Gläubiger vom Kanton Wallis hätten übernommen werden sollen. Der Kanton Wallis spielte aber nicht mit. Ähnliches gilt in den USA. Nach Schuldenexzessen aufgrund anfänglicher Sozialisierungsaktionen, die eine Wirtschaftsblase entstehen liessen, die in den Jahren 1835 bis 1842 platzte, verständigte man sich dort auf Enthaltsamkeit mit harten Schuldengrenzen für die Gliedstaaten. Die US-Notenbank kauft seitdem keine Schuldpapiere dieser Staaten – ganz anders als in Europa, wo sich die EZB vollgeladen hat mit den Papieren der Staaten der Euro-Zone. Dafür haben die USA freilich ein ungelöstes Schuldenproblem auf der obersten Ebene des Zentralstaates.

Derzeit wird viel über die Präsidentschaftswahlen in den USA diskutiert. Was würde ein Wahlsieg von Donald Trump oder Kamala Harris für Europa wirtschaftlich bedeuten?

Was die Handelspolitik angeht, ist der Unterschied zwischen den Demokraten und den Republikanern leider gar nicht mehr so gross. Trotzdem ist Kamala Harris bekannt dafür, dass sie nicht viel von Handelsrestriktionen hält. Wenn sie gewählt würde, könnte man in Europa also etwas aufatmen. Der Protektionismus würde dann vielleicht nicht so auf die Spitze getrieben, wie das unter Trump zu erwarten wäre.

Sie können dem Frankfurter Wirtschaftskorrespondenten Michael Rasch auf den Plattformen X, Linkedin und Xing folgen.